flugschrift #41/2022, Chris Zintzen: Zen, Riverrun, usw.
Daowu: How can I be free? – Shitou: Who’s holding you captive?
Daowu: How can I get to the Pure Land? – Shitou: Who’s making you impure?
Daowu: What is Nirvana? – Shitou: Who is it that places you in birth-and-death?
Diese Ausgabe #41 der flugschrift soll auf braunem Papier gedruckt werden, etwa die Farbe von Packpapier. Für den Fotodruck und die beabsichtigte kleine Schrifttype wäre ein Papier der Kategorie „coated” vermutlich angemessen.
Damit ergibt sich folgendes Farbschema: Braun (Erde, Packpapier) als Hintergrund, darüber hinaus Farben aus dem Spektrum „Wasserblau” für den Fließtext, für Impressum und Titel. Da die flugschrift aus einem einzigen Papierbogen in mehrfacher Faltung (frz. „le pliage” – der Diskurs faltet sich auf sich selbst zurück) besteht, werde ich jene Seite des Druckbogens, auf welcher Titel und Impressum angelegt sind, als Vorder- oder Recto-Seite bezeichnen, die andere Seite als Rück- oder Verso-Seite. Die flugschrift #41 wird nicht mit möglichen, durch die Faltung bzw. durch die Reihenfolge der Auffaltung durch Rezipierende sich ereignenden Dramaturgien spielen, sondern zielt auf eine Wahrnehmung ab, wie sie bei Plakaten üblich ist: So erfolgt die Anordnung von Text und Bildern auf zwei jeweils ident bemessenen großen Flächen, denn wir suchen den Eindruck von Weite und Raum, um die Relativität des diskursiv-rationalen Modus augenscheinlich werden zu lassen.
Die Geistes-Haltung des Zen relativiert das, was wir für unsere größte individuelle und kulturelle Errungenschaft halten, nämlich den rationalen und diskursiven Geist zugunsten einer Wahrnehmung „vor dem Denken”. – Für einen schreibenden Intellektuellen, der sehr wesentlich im Raum der Sprache, in den Landschaften des Denkens und in den Kartografien des positiven Wissens zu Hause ist, mag dies eine fundamentale Kränkung darstellen. Diese reproduziert sich einerseits in der frustrierenden Hilflosigkeit beim Lösen von Koans, bedingt andererseits aber wesentliche Lernprozesse in jenen Regionen der Person, die unter dem Einfluss fremder und übernommener Verhaltens-, Denk-, Sprachregelungen zu verkarsten drohten. Somit wird Zen, über längere Zeit hinweg regelmäßig als körperliche und mentale Übung praktiziert, zur Basis einer Neudefinition der Person, einer Wiederbegegnung mit verschütteten Valenzen und zu einem Prozess des „unscrewing the screw”, welcher zu mitunter verblüffenden Resultaten führt.
Im Leben ist es dein Job, es ganz genau zu wissen und dies präzise aufzuschreiben. Beim Zen stellt sich die Aufgabe, es „mit Absicht nicht zu wissen”. Ein Schuft, wer hier an Hegel, Šklovskij, Brecht denkt, die sämtlich von einer fruchtbaren Verfremdung des Bekannten sprachen und damit jene Manöver der Kunst meinten, vertraute Dinge und Sachverhalte dergestalt künstlerisch zu beleuchten, dass diese uns Wahrnehmenden begegnen, als sähen wir sie zum ersten Mal. Diese Energie des „premier instant”, des ersten Augenblicks oder der apperzeptiven Urszene, gilt es zu mobilisieren.
Im Unterschied dazu kann dieser mein Diskurs nur die Schlieren des Zuvor-Gedachten und Vor-Überlegten wiedergeben („pensée pensée”, nach Patrick Mahony): Ich bekenne mich gerne dazu, diesen Diskurs nicht als „Zen-Ereignis” freizugeben, sondern vielmehr als Blick in den Maschinenraum, oder – um eine andere Metapher zu gebrauchen – als Perspektiv auf einen unendlichen Fluss der Perzeptionen, Konzepte, Hypothesenbildungen, Systematisierungen zu gestalten („pensée pensante”): ein „Riverrun”, wie ihn James Joyce in Finnegans Wake inszeniert.
Auch der Unterschied zwischen „Zen” und „Nicht-Zen” ist nur ein Konzept: Wo das Tertium „non datur” ist, gibt es Ausweg A in den Makrokosmos und Ausweg B in den Mikrokosmos des unmittelbaren Moments: Der Vorhang kräuselt sich, unter dem Schreibtisch schnarcht der Hund, Deep Dub-Chords tönen aus den Lautsprechern, Kinderstimmen klirren aus der Gasse zum Arbeitsplatz am Fenster des ersten Stockes herauf. Dies wahrzunehmen und – es wahrnehmend – hier und jetzt zu notieren, kommt einem Ich-losen Schreiben nahe, denn das gerichtete Bewusstsein und die tippenden Finger sind nur übersetzende Instrumente dessen, was geschieht, was sich ereignet, was ist. –
Mir fällt auf, wie stark die kulturellen Konventionen der deutschen Sprache in diesem Augenblick die Formulierung des Gemeinten behindern, da die Begrifflichkeiten von „sein” bzw. „es ist” semantisch von der Anmutung einer (vermutlich ontologisch beeinflussten) Totalität des Seienden überschattet werden. Dem oben angesprochenen „was ist” soll keine Totalität zugesprochen, zugeschrieben, „auferschrieben” werden, denn ich kenne meine Wahrnehmungsmöglichkeiten als begrenzt: Als begrenzte Möglichkeiten der Person, als limitiertes Wahrnehmungsspektrum der Spezies. „Was ist” meint lediglich das So-Sein („suchness”) dessen, was gerade an meine Sinne und in mein Bewusstsein dringt – der Bruchteil einer Wirklichkeit, die zu erfassen ich selbstverständlich außerstande bin, an welcher ich dennoch nicht nur Anteil habe, sondern deren Anteil auch ich bin.
Für die Gestaltung der flugschrift bedeutet dies, dass nicht jedes einzelne Wort, nicht jeder einzelne Satz, nicht jeder Gedanke von möglichen RezipientInnen tatsächlich gelesen werden müssen, damit das Werk aufgefasst und verstanden werden kann. Folglich wählen wir, wie ich Dieter Sperl und Dominik Hruza im Gastgarten des Café Zartl erkläre, einen kleinen Schriftschnitt (Avenir light, 12 Punkt) und setzen den Text in Langzeilen. Darüber werden Titel (Bodoni, hinterlegt mit dem Motiv einer Fluss-Fotografie) und Impressum gelegt sowie ein illustrierendes Bildmotiv, welche der linearen Lektüre des Textes buchstäblich „im Wege” steht. Denn vielleicht will ich ja gar nicht gelesen oder überhaupt verstanden werden, denn das Schreiben als solches unterläuft, unterspült und umspült die egozentrische Selbst-Setzung des „Das bin ich”, denn ich bin niemand jenseits der Dinge, mit denen ich mich beschäftige.
Da Zen nicht „eins” und nicht „zwei” ist, weder „so” noch „anders”, keine „Welt” oder „Gegenwelt” ist, kein „Glaube”, „keine „Religion” und auch nicht das Gegenteil davon; da Zen also unser Denken in Gegensätzen in Richtung einer Auflösung von Alteritäten, Oppositionen und Widerständen modifiziert, soll auch diese flugschrift die Distinktion von Vorder- und Rückseite mithilfe eines runden Durchstichs aufheben.
Ich entlehne dieses Gestaltungselement aus dem Bereich der Architektur, wo durch bauliche Manöver Außen- und Innenraum, Außen- und Innenhaut des Gebäudes, „cella” und „vicinia” miteinander verschränkt werden. Analog dazu sollen Vorder- und Rückseite des Druckbogens durch ein kreisrundes Interface miteinander kommunizieren.
Die Recto-Seite ist als Seite der Schriftlichkeit konzipiert: Hier situieren sich Titel, Impressum, eventuell ein QR-Code sowie der überwiegende Textanteil dieser flugschrift. Verso wird als Bildseite angelegt: Acht Wasserstücke, aufgenommen sämtlich an und von der Donau rund um Wien, liegen in den durch die Falzung und Faltung bedingten acht Feldern. Das erwähnte Kreis-Interface zeigt vorne das Artefakt einer verdichteten Komposition der acht Wasserbilder der Rückseite. Auf der Rückseite zitiert der Kreis das Joyce-Zitat von vorne, wobei die Schrift vor dem Hintergrund der Wasserstücke durchsichtig wird und sich gewissermaßen auflöst. Die beabsichtigte Verschränkung von Vorder- und Rückseite scheitert naturgemäß an der Schranke des Papiers, welches zugleich Grund und Daseinsbedingung des Druckwerks ist. In letzter Konsequenz trüge der ideale Druckbogen für eine Darstellung dessen, was Zen ist, wie Zen wirkt bzw. was das Subjekt im Zen erfährt und erlebt, ein Möbiusband, nämlich eine „Fläche, die nur eine Kante und eine Seite hat. Sie ist nicht orientierbar, das heißt, man kann nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen unterscheiden” (Wikipedia).
Nicht „Ich” und nicht „Nicht-Ich” sein, das ist Zen; wir finden Belege für diese Erfahrung der Integration bei Ovid, bei Marc Aurel und im Grunde überall dort, wo die Seinserfahrung eng mit Naturerfahrung in einem nicht-bemächtigenden Sinne vorhanden ist. Wo die „coincidentia oppositorum” ihre Leiter fortwirft (Wittgenstein) bzw. das Boot forttreiben lässt (Buddha) und noch über das Wegwerfen und Forttreiben-Lassen hinausgeht, wird sie sich im Zustand einer multiplen Aufhebung (Hegel) wiederfinden, die allerdings nicht der ewigen Selbstreferenz, sondern der förderlichen Zuwendung zu anderen Lebewesen zu dienen hätte.
Solche Valenzen werden kaum Druckreife erlangen, da sie kaum sagbar, noch weniger argumentierbar und eher nicht in logischen Sätzen aufschreibbar sind. Wer könnte das Wesen einer stehenden Welle aufschreiben, wo Stillstand und Bewegung (optisch) in eins fallen? Wer beschriebe die Oberkante des Kreisels, wo Ruhe und rasende Drehung (optisch) konvergieren? – „Such a mind does not fluctuate in its center, in the deep region of psyche. In this state, because the mind moves in such a way that it does not dwell on anything, there is no obstruction for the mind to move freely” (Shigenori Nagatomo, Japanese Zen Buddhist Philosophy, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy).
So bleibt hier nur, Schwingungen und Phasen einer angenehm unendlichen sprachlichen Nach-Setzung aufzuzeichnen, die schon deshalb an der Sache vorbeigehen müssen, da die Zen-Erfahrung den notwendig linearen Diskurs unterminiert. Den Versuch deshalb zu unterlassen, hieße, das Eine ob eines Anderen zu verwerfen, genauso, wie mich das Schmerzen des Radfahrerknies nicht am Praktizieren der Sitzmeditation hindert. Ich nehme die Vergeblichkeit meiner Rede gerne hin, denn ich will niemanden überzeugen, will nichts erklären, möchte mit Sprache m/einer Natur folgen: Sprache, die sich ereignet, wie sich Regen ereignet. Sprache als Rhythmus, Sprache als Groove. Sprache als Atmen. Du könntest statt „Sprache” genauso „Farbe” sagen oder „Textur”: Sie alle sind weder gleich noch verschieden, sondern im Grunde diverse Extensionen, Kanäle, Akzidenzien oder Ausgabeformate eines einzigen energetischen Prinzips.
Schreiben (und weniger das gesprochene Wort), aufgefasst als Mantra in ständigem Vollzug, welches das Subjekt am Leben erhält. Der Hund bellt, der Vogel singt, Zintzen schreibt. Gemurmel, Gekritzel, Gedenken, Gedanken. Schreiben als ein ständiges Antworten auf das Sein, auf die Welt, auf das, was da vibriert und sich rührt, was da tut oder ruht, was da singt oder klingt – „ce qui me regarde”. Ganz sicher, es geht auch anders, das In-der-Welt-Sein. In der Meditation, in der handwerklichen Arbeit, im Sport, in der Natur.
Dieses „mein” Schreiben – es ist nicht mein Eigentum, mein Besitz oder mein Verdienst, sondern geht sozusagen eigengesetzlich durch mich hindurch, weshalb das „mein” nicht als Possessivpronomen zu verstehen ist, sondern eher als eine Art lokativer Index. Das Schreiben, das sich hier, in meiner unmittelbaren Nähe und unter meiner Mitwirkung vollzieht, ist stets ein adressiertes, dialogisches und gerichtetes: Sei es, das Schreiben antwortet auf Menschen, sei es, es antwortet auf Sachverhalte, die sorglich, pfleglich und nach den Regeln des Text-, Argumentations- und Sprachhandwerks angemessen behandelt werden wollen (Upāya – „skillful means”). Die Unfähigkeit zu einem monologischen Schreiben erweist sich am regelmäßigen Scheitern des Unterfangens, ein Tagebuch zu führen: Denn das Aufzeichnen von Einzelwahrnehmungen, Befindlichkeiten oder gar Gefühlen will mir regelmäßig als eitel, ephemer und als eigentümliche Themenverfehlung erscheinen. Das Wichtige, die Leitmotive, die Klärungsbedürfnisse und die Erkenntnisinteressen merke ich mir ohnehin und weiß, dass ich diese auf dem Wege eines primären oder sekundären Werks eines Tages befrieden, sublimieren und in etwas Sinnvolles verwandeln werde können. Es gilt also: Nicht bin ich, weil ich schreibe, sondern ich bin, weil ich über etwas anderes als mich selbst schreibe.
Der Schreibprozess will nichts, er soll nichts, er schwingt. Das Schreiben vibriert wie das Blatt zittert am Baum oder flirrt wie die Libelle über dem Wasser des Marchfeldkanals. Summt wie die Bienen am Flachwasser des Donau-Oder-Kanals an heißen Tagen, flötet und orgelt wie der Wind im Gestänge der Baukräne bei der Marienbrücke. Tanzt wie die ufernahen Weidenbäume an der Donau und murrt wie die eigenbrötlerische Krähe auf dem Kastanienbaum: „Hier ist es gut sein!” – Rhein, Donau, Mississippi, Von da nach dort nach da (Rosachrom) und „Riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs” (James Joyce, Finnegans Wake).
Welche Frage stellen sie dir – die Bienen, die Libelle, die Kräne, die Krähe, die Weidenbäume –, und wie kannst du diese Frage beantworten? – Zen lehrt, als Haltung ein „Ich weiß nicht” zu kultivieren und konfrontiert deine geübte Rationalität im Koan-Gespräch mit verbalen Paradoxien, die nicht rational und oft auch gar nicht verbal zu lösen sind. „The Gateless Gate (Mumonkan)”, notiere ich in einem Brief an W., „betitelt sich eine Koan-Sammlung aus dem 13. Jahrhundert, deren Rätselfragen uns immer wieder neu auf den Umstand stoßen, dass sich das biblische Nadelöhr vor allem in unserem Köpfen befindet (Kafkas Türhüter-Fabel).”
Die Zen-Praxis will uns in jenen Zustand einüben, der „Hingabe” (Shamatha – „calm abiding”) und unmittelbare Geistesgegenwart (Vipashyana) vereint und der mich am ehesten an jenen Zustand erinnert, den man in der Disziplin des Dressurreitens als „Durchlässigkeit“ des Pferdes bezeichnet: ganz da sein, in Verbindung sein, die Widerstände ziehen lassen, weich werden. Im Zen bin ich Ross und Reiter zugleich: Wir arbeiten einander wechselseitig durch – ganz im Sinne jener eindrücklichen Bilderserie der sogenannten Ox Herding Pictures des Tensho Shūbun, eines japanischen Zen-Meisters aus dem 15. Jahrhundert. Die zehnteilige Grafikserie zeigt, wie der Hirte sich dem wilden Stier nähert, diesen allmählich zähmt, schließlich sogar Flöte spielend auf dem Tier reitet. Es folgt ein friedliches Nebeneinander vor der Hütte, bis es eines Tages nicht mehr des Stiers bedarf, eines weiteren Tages nicht einmal mehr der Hütte: Der Hirte, so die Zen-Deutung, hat also nicht nur sein Ego gezähmt, sondern es eines Tages sogar ganz verabschiedet.
Das „Hü!” oder „Brr!” von Ross und/oder Reiter entspricht dem berühmte „Mu!” von Zen-Meister Joju (Zhao Zhou) als Antwort auf die Frage, ob Hunde Buddha-Natur besäßen. Andere Zen-Meister brüllen „Katz!” oder sagen „Wau!”, schlagen den Adepten oder auf den Boden, klatschen oder lachen. – Gleich oder verschieden? - „Weiß nicht.” – „Bleib bei deinem Weiß nicht! Noch besser aber, du stehst auf und bringst deinem Gegenüber eine Tasse Tee, statt dir weiter den Kopf und das Herz über solche absichtlich aufgespannten scholastischen Fallstricke zu zerbrechen.”
Mir gefällt, dass mit der umgangssprachlichen Formel „Alles gut!” ein ähnlicher Effekt erzielt werden kann: Geben und Nehmen, das Fehlen und das Verzeihen, das Vorher und Nachher fallen in eins. Tabula rasa und: „Wie machen wir weiter? Was jetzt?”
Zehntausend Illusionen und Selbst-Fiktionen trennen uns von der Welt, von einem bewussten und förderlichen Handeln in dieser. Während der Meditation sowie auf dem Wege der Koan-Dialoge arbeiten wir sie immer wieder von vorne ab. Wir werden den Fallen oder „hooks” der Koans nur dann nicht mehr auf den Leim gehen, wenn wir das aus unserer familialen Zurichtung Mitgebrachte „durchgearbeitet” haben. Erst dann – darin ist das Erfahrungswissen des Zen der Kunst/Wissenschaft/Praxis der Psychoanalyse ähnlich – lernen wir, die Brille des Ego abzunehmen – und auch ein Stück weit, durch das Gitter unserer Affekte, Triebhaftigkeiten, Wunsch- und Angstvektoren hindurchzusehen.
Wenn wir einige dieser phylo- und ontogenetisch bedingten Triebfedern unseres Fühlens, Planens, Denkens und Handelns erkennen, bedeutet dies freilich noch lange nicht, dass wir schlagartig frei von jedweder Getriebenheit sind. Indes haben wir nun eine Handhabe dafür, uns hier und da gegen das Getriebensein zu entscheiden. Der Affekt kommt – du lässt ihn ziehen: „Put it all down!” (Zen-Meister Seung Sahn).
In Tomi Ungeres Kinderbuch The Hat begegnen wir dem stereotypen Kommentar, wenn der titelgebende, wunderliche Zylinderhut seinen Träger auf den Wellen eines Windstoßes wieder einmal verlässt: „Lass’ ihn fliegen, Caro mio!” – Der Hut wird auf einem anderen Kopf landen und dem Menschen darunter Glück bescheren, um sich dann wiederum in die Lüfte zu erheben: „Lass ihn fliegen” – „a commodius vicus of recirculation”.
Genauso gehen wir also in Richtung eines zyklischen Zeitverständnisses, wenn wir die Aufmerksamkeitsstruktur des Zen besser verstehen wollen: Verabschieden wir uns von der abendländischen Konzeption einer linearen und progredierenden Zeit, fällt es uns vielleicht leichter, unser Sein und unsere Praxis – hier konkret: auch das eigene Schreiben – aus den Fängen der Idee von „Progression” und „Fortschritt” zu lösen. Damit befreie ich mich gleichzeitig von den sehr westlichen und – interessanterweise den monotheistischen Religionen eigenen – Valenzen von „Zuwachs” und „Entwicklung”, mithin auch von „Investition” und „Gewinn”. Die Konzentration auf die Ordnung des Geistes im Jetzt vermag im Boden des alles instrumentalisierenden und unterwerfenden Geistes wohl nur schlecht Wurzeln zu schlagen – es sei denn als Selbstkasteiung, als erzwungener (und daher missverstandener) Stoizismus oder in der Pose einer märtyrerhaften Entsagung.
Wer schreibt, oder wer sich öfter mit der Lösung handwerklicher Aufgabenstellungen befasst, ist darauf vorbereitet, dass es einen solchen Progress oder Prozess nie auf linearem Wege geben wird. Becketts „fail better” und Valérys „90% Transpiration” sagen das Gleiche wie das „10.000-mal Probieren” im Zen. Das Schreiben kann ich nur durch das Schreiben lernen, Lesen und Lehrgespräche, Coachings und Schreibschulen, gutes Papier oder die ideale Textverarbeitung sind nur, wie es im Zen heißt, „der Finger, der auf den Mond zeigt” und nicht der Mond selbst. Auch im Schreiben bin ich, wenn es denn richtig sein soll, in einem sonderbaren „Jetzt”, welches sowohl in der Körnung des Augenblicks als auch im Fluss oder „flow” des Vollzugs sich ereignet.
Was aber ist dieses „Jetzt“, was ist diese unmittelbare Konkretion, zu der wir im stundenlangen Üben beim Zazen und zu dem wir im Zuge hunderter Koan-Dialoge gelangen wollen? – Nicht zufällig kommt Roland Barthes im Kontext seiner medienphilosophischen Überlegungen zum Wesen des fotografischen Moments auf das Zen-buddhistische „Jetzt” zu sprechen: Denn ja, auch er hat sich im Kontext seiner Japan-Erfahrung und der Auseinandersetzung mit der poetischen Wesensart des Haiku mit Zen befasst und natürlich Allan Watts’ charismatisches Buch The Way of Zen (1957) gelesen. Was 1970 in L’Empire des signes noch etwas betulich-subjektivistisch und leicht parfümiert anmutet, figuriert 1980 in La chambre claire abgekühlt, adstringiert und als viables Erkenntnisinstrument: Wir haben es bei der Fotografie, so Barthes, mit einem irreduziblen „Punctum” zu tun. Sämtliche unserer nachfolgenden Erklärungen, Interpretationen, Kontextualisierungen sind etwas davon Verschiedenes und werden von Barthes „Studium” genannt.
„Punctum” bezeichnet eben nicht nur den unmittelbaren fotografischen Moment (Cartier-Bressons „instant décisif”), sondern auch den Moment der Betrachtung: Dort ereignet sich etwas unmittelbar, hier wird etwas unmittelbar wahrgenommen, leuchtet etwas unmittelbar ein. Einleuchten, erleuchten. Im Grunde war es das schon. – So wenig? – Nein: So viel!
Entscheidend ist: Das Jetzt, das „Punctum”, die Fotografie und die Einsicht ins unmittelbar Vorhandene sind ständig zu erneuern, müssen vom Subjekt unentwegt neu hervorgebracht werden. In dieser ständigen Energetik, in dieser unentwegt neu aufzubringenden Energie, in dieser Geistesgegenwart „Moment für Moment” besteht die Herausforderung. Die Akzeptanz des Umstandes, dass unser Leben aus unzähligen einzelnen Aufmerksamkeitseinheiten besteht und dass diese Aufmerksamkeits- und Erfahrungseinheiten durch Ideen, Verlaufshypothesen, Heilversprechungen konzeptuell eskamotiert werden, stellt eine große Befreiung dar. Unser Leben werden wir nie kontrollieren können – Autorschaft können wir aber über den Moment erhalten, bzw. über das, was sich in unserem Kopf und in unserem Herzen ereignet. Was sich ereignet und was sich ereignen wird, gleicht Joyces „Riverrun”: „a commodius vicus of recirculation”.
Eine solche Autorschaft am „Punctum” (bzw. dessen mentaler Rezeption und Prozessierung) kann sich auf jenen Spalt („gap”) einlassen, der im Straucheln über eine Schwelle, im Schweben zwischen zwei Treppenstufen, in der langen Schrecksekunde des Sturzes von Pferd oder Fahrrad ereignet: Vollkommene Ungewissheit, wie es nun weitergehen werde und eine sonderbare Neugier: Wie und wo komme ich an?
„Mind the gap!” lautet die ikonische Formel in der Londoner Tube, welche die Passagiere auf die unfallträchtige Fuge zwischen U-Bahn-Waggon und Perron aufmerksam machen soll. In Wien dahingegen werden wir per Lautsprecher aufgefordert: „Seien Sie achtsam! Zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Türe ist ein Spalt!“ – Im Gefängnis der Wortwörtlichkeit wäre Zen somit das Andere zu dieser „Wiener Achtsamkeit”: Ein unentwegtes Abspringen ins Ungewisse, entschlossen, entschieden, aktiv.
Die Einsicht, dass dieses Ungewisse der andere Mensch ist – auch der unbekannte Mensch im eigenen Inneren –, beginnt, sich nach einigen Jahren intensiver Zen-Praxis abzuzeichnen. Diese Realisation setzt eine fundamentale Revision von Schreibabsicht, -prozess und -vollzug in Gang. Wir können dem künftigen Schreiben in diesem Moment allerdings nichts vorschreiben, denn wir schreiben in einer davon unterschiedenen Gegenwart: Hier, in diesem Google-Dokument, das ich nachher an Dieter Sperl zur Freigabe für die flugschrift #41 übermitteln werde.
Es gibt kein „einmal erreicht”. Heute Abend wende ich mich der nächsten Schreibaufgabe zu. Jetzt aber stehe ich auf, denn der Hund möchte, wie allabendlich, entlang des Donaukanals („Riverrun”) laufen: „a commodius vicus of recirculation”.
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Chris Zintzen, Jg. 1966; Autor, Publizist, Kurator der Reihe „Literatur als Radiokunst” im ORF-Kunstradio. Leidenschaftlicher Flussanwohner und -beobachter, https://bit.ly/panAm-Fachtexte – „Und stimmt, es gibt Redundanzen, wie sie im Immer-Neu-Vergegenwärtigen beim Schreiben entstehen. Das Wörtchen Zen geriete dann leicht zu einem Steinchen im Schuh oder diente als Ritterrüstung: Wir aber wollen verbinden, nicht trennen.“
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