Von Florian Gucher
Die gebürtige Bregenzerin Sarah Rinderer hat für die experimentelle Literaturzeitschrift namens „flugschrift“ Tagebuchniederschriften ihrer Islandaufenthalte verarbeitet. Bezugnehmend auf die Leuchtfeuer des Grótta-Leuchtturmes nennt sich ihre Ausgabe „sektorenfeuer“.
Und es sind die Feuer des Turmes, die durch die Tiefen und Untiefen auf See und Land sowie der eigenen Seelenlandschaft leiten. Alltägliche Empfindungen verweben sich mit Geschichten des Ortes. Dunkelsektoren, die Perspektiven, an denen die Lichter nicht zu sehen sind, werden nicht ausgespart. Sprachspiele gehen einher mit immer neuen Lese- und Entfaltungsmöglichkeiten dieses Hybridformates zwischen Folder, Poster und Zeitschrift, als das sich die „flugschrift“ gibt. Am Ende schließt sich der Bogen durch Farbspiele, die so etwas wie einen Faden in die poetische Abhandlung bringen.
Experimentelle Leseerlebnisse
Man kann die ineinander gefaltete Flugschrift „sektorenfeuer“ so aufstellen, dass sie formal ein leuchtturmartiges Gebilde ergibt. Ein rechteckiger Schnitt in der Mitte, von Sarah Rinderer bewusst so gewählt, gibt dem Ganzen objekthaften Charakter. Die Ausgabe „sektorenfeuer“ reicht den Leser:innen den Schlüssel in die Hand, sich eigenständig einen Weg durch das poetische Wortgewitter, das sich auf dieser mehrmals ineinander geknickten Fläche von 48 × 68 cm ausbreitet, zu bahnen. Nicht nur das Format kann frei gewählt werden – man kann die Flugschrift als auf dem Tisch gestelltes Objekt, als gefaltete Zeitung oder aber als Plakat durchforsten. Ob von außen nach innen, von oben nach unten oder querfeldein gelesen wird, überlässt die Autorin den Rezipient:innen. Selbst Worte und Wortfragmente lassen sich beliebig zusammenbauen. Rinderer spielt mit Leer- und Weißstellen, die neben den geschriebenen Worten auf diesem Blatt Papier ebenbürtigen Platz erhalten. So ist die Leere in der gesamten Flugschrift beinahe in der Überzahl und lässt Raum zur Interpretation zu.
Die Poesie der Sprache
Den Ausgangspunkt nehmen Rinderers Reiseaufenthalte 2017 und 2022 auf der isländischen Halbinsel Seltjarnarnes, die sie in persönlichen Tagebuchnotizen festgehalten und in eine poetische Form gebracht hat. Nahe ihrer Unterkunft erhob sich der bekannte Leuchtturm Grótta, der in der aufziehenden Sprachlandschaft wie ein Anker fungiert. Rinderer lässt durch ihre Schreiblandschaft schreiten, diese aus verschiedensten Winkeln betrachten. Sie lässt Schiffe im Horizontbereich vorbeiziehen oder Schwefeldampf aufziehen. Sie manifestiert eine Besessenheit mit mehreren, sich lose am Blatt verteilenden Begriffen. Muschelfragmente poppen in dem Kontext auf, aber auch Trompetenhöhen zwischen Kopfhörerschalen oder Vulkansand unter den Fußsohlen. Sprachspiele bauschen sich auf. Ein einziges Wort lässt nachsinnen, erheitert, gibt ein Gefühl von etwas oder zergeht langsam auf der Zunge, wie ein Stück Schokolade, das man nicht runterschlucken möchte. Man nehme das von Rinderer ins Spiel gebrachte „gänsefingerkraut“ oder die „weger-ich-gewächse“ gleich darunter. Viel weiter unten, doch dem zugehörig, findet sich erst das dazu passende „am wegrand“. Die Autorin gibt durch das leere, unbesetzte Weiß die Zeit, den Geschmack der Worte wirken zu lassen. Eingeflochten in das Spiel mit Bedeutungen tauchen isländische Sprachpartikel auf. Orð, gleichbedeutend mit ‚„Wort“, dem „ortsnamen“ nach, steht da. „Augnfró“ tut sich links neben dem „gänsefingerkraut“ auf, „en ofan kuldi“ – zu Deutsch „aber oben kalt“ – neben dem „knarren“ und „knirschen“. Mittendrin spricht sie von Kursabweichungen und Landverbindungen, von Ebbe und Flut, von Back- und Steuerbord. Aus der Seefahrersprache bekanntes Vokabular wird weitergedacht, aufs Gemüt übertragen. Vergangenheit vermengt sich mit Gegenwart, Mythen mit Relikten, innere Eindrücke mit Beobachtungen des Außen. Interessanterweise lässt sich dann aber doch so etwas wie ein Erzählstrang ausmachen. Zum einen ist das von den eingestreuten, aus der Seefahrt entlehnten Farben bedingt, auf die bereits der Titel verweist – „sektorenfeuer“ ist ein Leuchtfeuer, das Licht mittels Farbkennungen ausstrahlt, um für Sicherheit auf hoher See zu sorgen: „Anhand dieser durch Farbfolien ausgestalteter Farbflächen kann man sich von außen nach innen vorarbeiten“, so Rinderer. Der Bogen spannt sich von vornehmlich im grauen und schwarzen Bereich ausgebreiteten Elementen der altnordischen Dichtung „Grottis Gesang“ und der Geschichte des Leuchtturms, auf dessen Gelände einst eine Mühle stand, bis hin zu Weißstellen unterbrechende individuelle Eindrücke. Die Dramatik nimmt wiederum zu, sobald es ins grelle Rot übergeht, ehe ein sanftes Grün Ruhe und Hektik einander ausspielen lässt. Zum anderen ist es der Turm selbst, der alles wie eine Klammer zusammenhält. Mal ist er nah und man kann in seinem Verputz sogar von Kindern gemalte Tiere erkennen, dann wiederum referieren entfernte grüne Nordlichter, die sich letztlich als Leuchtturmblinken entpuppen, ein Displayleuchten und selbst Autos mit ausgemachten Scheinwerfern auf seine Präsenz.
Zwischen Literatur und Kunst
Sarah Rinderer ist künstlerisch vielseitig engagiert. Ihr Tätigkeitsbereich zieht sich von Prosa und Lyrik bis hin zur bildenden Kunst. Sie studierte an der Kunstuniversität Linz, wobei sie sich von ihrem seit der Jugend an forcierten literarischen Tun nie löste, dieses vielmehr grafisch bereicherte. Zusammengehalten werden ihre Tätigkeiten durch das Interesse an Sprache und ihren Zwischenräumen: Man denke an ihren Dialogtext „Ein Zimmer“, der sich wie eine für zwei Instrumente gedachte Partitur mit zwei Spalten auftut. Oder an die Klangperformance „Punkt O (0 | 0)“, die sich auf Papier wie ein visuelles Kunstwerk ausbreitet.
Die seit 2012 quartalsweise erscheinende „flugschrift“ selbst wurde übrigens vom gebürtigen Kärntner Germanisten Dieter Sperl als Literaturzeitung entwickelt, um Autor:innen ein experimentelles, sich an der Schwelle zwischen Literatur, Kunst und Theorie bewegendes Format als Gestaltungsaufforderung anzubieten. Die Ausgaben werden je von einer Autorin oder einem Autor gestaltet. Schriftsteller:innen wie Mayröcker, Cotten oder Rühm haben bereits mitgewirkt. „Gemeinsam mit Barbara Zwiefelhofer vom Literaturhaus Wien und dem Grafiker Dominik Hruza laden wir Autor:innen ein, diesen Zeichen-Raum zu bespielen. Ob sie diesen nun mit Manifesten, Zeichnungen, Fotos, Scherenschnitten, Comics, konkreter oder konzeptueller Poesie und Theorie erfüllen, bleibt ihnen überlassen“, so Herausgeber Sperl.
Rinderer macht dem Format der „flugschrift“ alle Ehre. Sie hat durch die aufwendige Faltung, den Schnitt in der Mitte und dem Spiel mit Fülle und Leere der Intention der „flugschrift“ gemäß etwas noch nie Dagewesenes ausprobiert. Ob ihre Ausgabe mehr grafisches Kunstwerk oder Literatur ist, lässt sich schwer sagen. Vielleicht soll es das auch gar nicht. Nach eigenem Belieben ist „sektorenfeuer“ Bild, Objekt, Text, Poesie, Lyrik, Prosa und Klangkunst in einem.
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR April 2024 erschienen.
Sarah Rinderer: sektorenfeuer. flugschrift, Literatur als Kunstform und Theorie Nr. 45, Dezember 2023, Hrsg. v. Dieter Sperl, ISBN 948-3903103-35-1, € 5, zu beziehen über www.flugschrift.at
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